Die Rolle der Reserve: „Wehrhafte Demokratie entsteht durch wehrhafte Bürger!“

„Wehrfähigkeit ist nichts, was man mit einer politischen Entscheidung herstellt, sondern eine Generationenaufgabe“, erklärte Hauptmann Matthias Henschel und lieferte sogleich eine eindringliche Begründung, warum die Thematik der Reserve für eine langfristig orientierte Sicherheitspolitik von besonderem Interesse ist. Der Reserveoffizier absolvierte eine breite Ausbildung und ist heute Kompaniechef der 10. Kompanie des Fallschirmjägerregiments 26.

Maximilian Marzi leitete für die ASH Heidelberg in den Vortrag ein. (©ASH Heidelberg)

Anhand der estnischen Miliz 'Kaitseliit' erklärte der Referent Matthias Henschel das Prinzip der schützenden Verflechtung mit der Zivilbevölkerung. (©ASH Heidelberg)

In seinem Vortrag bei der Außen- und sicherheitspolitischen Hochschulgruppe Heidelberg (ASH) des Bundesverbandes für Sicherheitspolitik an Hochschulen (BSH) präsentierte Henschel verschiedene zeitgeschichtliche, gegenwärtige und auch zukünftige Interpretationen des Konzepts ‚Reserve‘. Als erstes Fallbeispiel wählte er die Aufwuchsfähigkeit, also die Fähigkeit zum Aufstocken aktiver Truppen, im Kontext des Kalten Krieges. So wären noch zu Beginn der 80er Jahre innerhalb weniger Wochen 880.000 Soldatinnen und Soldaten zur Alarmierung bereit gewesen. Diese, laut Henschel, damals „selbstverständliche“ Größenordnung verdeutlichte er auch mit Video-Material von der 1975 stattgefundenen Übung ‚Große Rochade‘, bei der allein pro Tag 300 Lufteinsätze geflogen wurden. Aus heutiger Perspektive dürften diese Zahlen in ihrer Höhe überraschend klingen, doch waren sie möglicherweise auch eine Reaktion auf den Erfahrungswert aus dem Zweiten Weltkrieg, dass Umfang und Ausbildung der Reserve durchaus kriegsentscheidend sein könnten.

 

Statt konventioneller Kriegsführung sind die Konflikte des 21. Jahrhunderts durch Hybridität geprägt, die darauf ausgelegt ist, Krieg zu führen, ohne eine völkerrechtlich nachweisbare Aggression zu produzieren. Vorteile für die Anwender bestünden in den geringen Kosten und der verbesserten Risikokontrolle, indem man Abstand von einer Eskalation mit Großmächten halten könne. Der Referent führte hier das Beispiel des Syrien-Konflikts an, bei dem der Einsatz sogenannter „Dschihad-Söldner“ auf Seiten islamistischer Kampfverbände zu Verlusten der Regierungstruppen in atypischer Höhe geführt hätten. Dieses Phänomen existiere vor allem seit dem Bosnienkrieg, so Henschel. Erst diese „Profis verleihen die Expertise, um sich gegen reguläre Streitkräfte zu wehren“ und damit die staatliche Ordnung in Krisensituationen zu gefährden. Hier komme die Reserve ins Spiel: Eine „enge Verflechtung mit der Zivilbevölkerung bietet Schutz“, meint der Hauptmann. Vorbild in puncto zivilgesellschaftlicher Resilienz sei Estland mit seinem Kaitseliit, zu Deutsch „Verteidigungsbund“, der eine Freiwilligenmiliz darstellt, die im Kriegsfall vielfältige militärische Aufgaben übernehmen könne.

 

In Deutschland gibt es zwar keine Nationalgarde, aber Henschels Kompanie lässt sich von dem Konzept inspirieren. Ein engagiertes Ziel ist zum Beispiel, das Durchschnittsalter im Schnitt unter 30 Jahre zu halten. Trotz seines Einsatzes für eine innovative Weiterentwicklung der Streitkräfte, ist für ihn aber auch klar: „Die Politik reagiert sehr träge auf Reformideen“. Militärische Schulen seien „ausgeblutet“ und Personal fehle besonders im Führerkorps. Diese qualitativen Einschätzungen spiegelten sich auch in Zahlen, wie der Diskrepanz zwischen der Ist- und Soll-Stärke der aktiven Reserve, wider. Dabei sei „Reserve“ kein Selbstzweck: „Wehrhafte Demokratie entsteht durch wehrhafte Bürger.“