Gleich zu Beginn deutete Ina Siemer darauf hin, dass koloniale Strukturen auch in den Köpfen der Menschen ihre Spuren hinterlassen haben. Dabei sei die Vorstellung einer kontinuierlichen Entwicklung zur modernen liberalen Demokratie häufig eurozentrisch und dadurch historisch ungenau. Diese Erzählung ignoriert unter anderem bedeutende Brüche und gewaltsame Prozesse in der europäischen Geschichte, wie etwa die feudale Zersplitterung und die verheerenden Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges. So war auch der Weg Europas zur liberalen Ordnung keineswegs geradlinig, sondern von tiefgreifenden Konflikten und Machtkämpfen geprägt.
Ergänzend liege ein weiteres zentrales Problem in der selektiven Anwendung westlicher Ordnungskonzepte, insbesondere jener des Westfälischen Friedens. Nach dem Dreißigjährigen Krieg wurden 1648 drei zentrale Prinzipien festgehalten: das Souveränitätsprinzip, Territorialprinzip und die Gleichberechtigung der Staaten. Diese Prinzipien wurden zwar innerhalb Europas und zwischen den europäischen Staaten betont und hochgehalten, galten jedoch nicht für außereuropäische Staaten. Deren Souveränität wurde systematisch untergraben und die politischen Strukturen von außereuropäischen Staaten als illegitim angesehen.
Überspringt man nun die Phase der Kolonisation, erfolgte - oder erfolgt noch - die Dekolonialisierung weltweit auf unterschiedliche Weise: durch graduelle Selbstverwaltung, bilaterale Verhandlungen oder durch gewaltsame Unabhängigkeitskriege. Dennoch zeigt Siemer auf, dass ein formales Ende des Kolonialismus nicht das Ende kolonialer Strukturen und Wirkmechanismen bedeutet. Vielmehr zeigen Postkoloniale Studien, dass viele aus der Kolonialisierung hervorgegangene Normen, Kulturen und Abhängigkeiten – psychologisch, politisch, ökonomisch, sprachlich, kulturell und epistemologisch – bis heute wirken. Dekolonisierung ist nicht nur eine formale Unabhängigkeit, sondern auch die Abschaffung jener heutigen Denkweisen, Institutionen und Machtverhältnisse, die auf ehemaliger kolonialer Herrschaft basieren und bis heute eine negative Wirkung haben.
Einen positiven Gesichtspunkt bildet die Tatsache, dass die meisten postkolonialen Ungerechtigkeiten heute weitgehend anerkannt sind. Dazu zählen etwa willkürliche Grenzziehungen (z.B. Mali oder Angola), Vertreibungen und ethnische Säuberungen. Dennoch ist eine vollständige Reorganisation dieser Strukturen oft nur begrenzt möglich: Die Veränderung bestehender Grenzen birgt das Risiko neuer Gewalt; die Rückgabe von Land und die Rücksiedlung von Bevölkerungsgruppen stellen politische und rechtliche Herausforderungen dar; und die Forderungen nach Wiedergutmachung stehen nicht selten im Konflikt mit dem Völkerrecht.
Als möglicher Ausgleich wird eine „goldene Mitte“ diskutiert: die Wahrung territorialer Integrität bei gleichzeitiger Förderung interner Selbstbestimmung. In der Praxis zeigt sich dies in verschiedenen Formen der Aufarbeitung und Reformen: nach neuer staatlicher Eigenständigkeit strebende Sezessionsbewegungen, Wahrheits- und Versöhnungskommissionen zur Aufarbeitung historischer Ungerechtigkeiten, symbolische Anerkennungsakte kolonialer Vergangeheiten, strukturelle Reformen sowie Engagements der Vereinten Nationen in Friedensmissionen und beim Staatsaufbau.
Zum Schluss gab Ina Siemer den Zuhörern einige Fragen zur Grundlage der Diskussion und zum Nachdenken mit: Wann ist eine Grenze rechtmäßig? Wer hat das Recht, Staatlichkeit zu beanspruchen? Kann die Dekolonisierung jemals abgeschlossen werden? Ermöglicht oder behindert das Völkerrecht die Gerechtigkeit? Und zum Schluss, können Grenzen jemals gerecht sein?