Die neue EU-Kommission – zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Wird Europa zum „geopolitischen Akteur“? So lautete der Titel des Vortrags von Dr. Siegfried Schieder vom Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg am 14. Januar 2020 bei der Außen- und Sicherheitspolitischen Hochschulgruppe Heidelberg. Rund zwei Stunden diskutierte der Heidelberger Politikwissenschaftler mit den VeranstaltungsteilnehmerInnen über die neue EU-Kommission und deren mögliche stärkere geopolitische Ausrichtung.

Zunehmender Handelsprotektionismus und die Erosion multilateraler Institutionen seien internationale Herausforderungen, die eine geopolitische Ausrichtung der neuen Kommission begründeten, erklärte der Politikwissenschaftler Dr. Siegfried Schieder in seinem Vortrag. (© ASH Heidelberg)

Neben Streitigkeiten bei der Ausgestaltung des mehrjährigen Finanzrahmens könne auch die starke ideologische Heterogenität der Kommission zur Gefahr für die Realisierung des geopolitischen Anspruchs werden. (© ASH Heidelberg)

Vom türkischen Syrien-Einmarsch bis zu den Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien: Oft habe die EU in der Vergangenheit diplomatische Schlappen eingefahren, aber trotzdem dürfe man kein zu frühes Urteil über die neue Kommission fällen, resümierte der Referent. (© ASH Heidelberg)

In einem ersten Abschnitt analysierte Dr. Schieder das Ergebnis der Europawahlen 2019 und thematisierte dabei auch die Auswirkungen auf die Zusammensetzung der neuen EU-Kommission. Zum ersten Mal seit 1979 verfügt die informelle große Koalition aus Europäischer Volkspartei (EVP) und den Sozialdemokraten (S&D) über keine Mehrheit im Europäischen Parlament, weshalb für die Wahl der neuen Kommission auch die Stimmen der anderen zentristischen Parteien nötig waren. Zwar wurde mit der Nicht-Berücksichtigung der Spitzenkandidaten Manfred Weber (EVP) und Frans Timmermans (S&D) bei der Nominierung des Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission durch den Europäischen Rat das erst 2014 eingeführte „Spitzenkandidaten-Modell“ ausgehebelt. Allerdings müsse man beachten, dass für eine zwingende Nominierung der Spitzenkandidaten keinerlei rechtliche Verankerung in den EU-Verträgen zu finden sei. Auch sei es nicht unüblich, dass wie im aktuellen Fall Personalpakete geschnürt werden.

 

Nachdem Ursula von der Leyen im Juli 2019 nur mit einer knappen Mehrheit von neun Stimmen im Europäischen Parlament gewählt wurde, bekam sie bei der Abstimmung über ihr gesamtes Kommissionskollegium im November dann aber deutliche Unterstützung im Parlament.

 

„I want to build a truly ´geopolitical Commission´”, verkündete Ursula von der Leyen im November in einer Rede beim Paris Peace Forum. Angesichts der großen internationalen Herausforderungen, wie zunehmender Handelsprotektionismus, der Erosion multilateraler Institutionen und der Gefahr, zwischen der zunehmenden Rivalität zwischen den USA und China gewissermaßen zerrieben zu werden, verlangten die BürgerInnen eine Europäische Union, die sich international behauptet, meinte Dr. Schieder. Dabei stellen die Verteidigung eines freien und fairen Handels und der europäischen Werte die Orientierungsrichtung der EU. Neue geopolitische Prioritäten und eine stärkere Verzahnung von Innen- und Außenpolitik sollen die Erreichung dieser Ziele ermöglichen.

 

Anhand der drei großen Prioritäten verdeutlichte Dr. Schieder beispielhaft diese neue engere Verzahnung von Innen- und Außenpolitik. Dazu gehören der „European Green Deal “, „an Economy that works for all“ und „a Europe Fit for the digital age“.

 

Die Herausforderungen hinsichtlich der Erfüllung des selbstgesteckten Anspruchs einer geopolitischen Kommission sind vielfältig, wie Dr. Schieder darlegte. Dabei sei zum einen der Faktor Geld zu nennen. So hätten bei den aktuellen Verhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 Kommission, Parlament und Rat unterschiedliche Vorstellungen gezeigt. Während die Juncker-Kommission im Mai 2018 noch einen Anteil von 1,11 Prozent des Bruttonationaleinkommens gefordert hatte, lag der Vorschlag der finnischen Ratspräsidentschaft bei nur 1,07 Prozent. Daran sehe man, dass der Rat die Bemühungen bremse. Auch stünden sich neue Prioritäten wie Verteidigung, Forschung, Digitalisierung älteren Prioritäten wie Agrarpolitik und Kohäsion gegenüber. Eine weitere Herausforderung konzentriert sich auf die politische Macht der neuen Kommission. Diese werde eingeschränkt durch die starke ideologische Heterogenität des Kommissionskollegiums, die Fragmentierung des EU-Parlaments und neue Konfliktlinien im Rat, etwa bei den Themen Klimaneutralität und Migration. Drittens stelle die intensive Koordinierung der zuständigen Akteure eine schwierige Aufgabe dar. Etwa berge die Group for External Coordination (EXCO) – das neu geschaffene Abstimmungsgremium für außenpolitische Fragen in der Kommission – das Potenzial von Grabenkämpfen aufgrund überlappender Kompetenzen.

 

Die „geopolitische Kommission“ brauche eine außenpolitische Strategie, formulierte Dr. Schieder in seinem abschließenden Fazit. Dabei stünden aber die unterschiedlichen Interessen und Vorstellungen der EU-Mitgliedstaaten einem kohärenten Agieren der EU im Weg. Des Weiteren habe sich die EU mit einer langen Liste diplomatischer Schlappen vom Verhalten gegenüber Venezuela, über den türkischen Einmarsch in Syrien, bis hin zu den Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert. Dr. Schieder zeigte sich skeptisch über die Realisierung einer stärkeren geopolitischen Rolle der EU, wies aber darauf hin, dass es natürlich noch zu früh für eine abschließende Beurteilung der neuen Kommission sei.