Veranstaltungsbericht: Libanons Innen- und Außenpolitik: Ausnahmezustand als Dauerzustand?!

Die mediale Berichterstattung über den Libanon ist geprägt von Negativschlagzeilen, u.a. von der Explosion im Hafen, den landesweiten Protesten, Schlägereien zwischen politischen Gruppen und mehr. Aber ist das auf negativen Schlagzeilen beruhende Bild vom Libanon gerechtfertigt? Was steckt hinter den Problemen des Landes? Wie wirkt sich die Instabilität auf die Region aus?

Über diese und weitere Fragen diskutierten wir am 27.05.2021 mit Christoph Dinkelaker von Alsharq-Reise. Hierbei zeigte er den Teilnehmenden die Wechselwirkungen zwischen den Entwicklungen innerhalb des Zedernstaates und äußeren Einflussfaktoren im Nahen Osten und darüber hinaus.
 

Zu Anfang verwies unser Referent auf länderspezifischen Gegebenheiten des Libanons, welcher trotz seiner geringen flächenmäßigen Größe eine enorme Vielfalt an Religionsgemeinschaften, kulturellen Einflüssen und Lebensentwürfen aufweise. Dies sei neben historischen Entwicklungen – allen voran der kolonialen Grenzziehung und der Einmischung verschiedener Besatzungsmächte – auch auf die jahrzehntelange Migrationsgeschichte zurückzuführen. Dabei seien laut Dinkelaker „nicht mal 2/3 der Bevölkerung libanesische StaatsbürgerInnen.“ Hinzu kommen große Anzahlen syrischer und palästinensischer Geflüchteter und ArbeitsmigrantInnen aus Südostasien.
 

Anschließend stellte Herr Dinkelaker die auf Sektarismus basierenden Machtverhältnisse im Land dar, die aus der besonders gewalttätigen Zeit des Bürgerkriegs hervorgegangen sind. Hierbei erwähnte er neben der offensichtlichen Schwäche des Staatsapparats, dass die Ansichten der Regierung und die Forderungen weiter Teile der Gesellschaft nicht divergenter sein könnten. In den letzten Jahren führten absurde Maßnahmen der Regierung und die unzureichende Bewältigung verschiedener Krisen zu landesweiten Protesten, die das fehlende Vertrauen der Bevölkerung und ihre offene Ablehnung offenbarten.
 

Einzelne politische und unpolitische Akteure, wie die Hizb Allah und die Drogenbosse in der Bekaa-Ebene profitieren von den schwachen staatlichen Strukturen, die ihnen bei illegalen Geschäften und machtpolitischen Ambitionen nicht im Weg stehen.

Das bevölkerungsreiche Land ist enorm von ausländischen Importen und Geldsendungen (v.a. von LibanesInnen in der Diaspora) abhängig, was es anfällig für die Einflussnahme von „Nachbarstaaten und regionalen Schwergewichten“ mache. Darunter sehe sich nicht nur der Iran als selbstproklamierte „Schutzmacht der Schiiten“, sondern auch Saudi-Arabien und die Türkei. Die verschiedenen Interessen einzelner Gesellschaftsteile führen zusammen mit ausländischen Interessen zu mehreren, teils überlappenden Konfliktlinien. So spielten verschiedene libanesische Kräfte eine wichtige Rolle im Konflikt in Syrien.
 

Unser Referent ergänzte seine Ausführungen mit persönlichen Erfahrungen, die er während seiner Aufenthalte und im Zuge eigener Feldforschung im Libanon sammelte. Dabei konnte er nicht nur die auf Grund willkürlicher Maßnahmen der Regierung kippende Stimmung von 2019 miterleben, sondern bekam als Zuschauer während eines Angriffs reaktionärer Kräfte auf die Demonstrierenden „auch einmal auf´s Auge“. Die Proteste von 2019 waren allgemein Ausdruck massiver Unzufriedenheit durch sich potenzierende Faktoren (Stromausfälle, fehlende Infrastruktur, Arbeitslosigkeit, hohe Steuern, Müllproblem, Korruption durch Regierende, Währungsverfall usw.) und wurden im Laufe von 2020 durch die Ausgangssperren auf Grund der Corona-Pandemie und ein verschärftes Vorgehen des Militärs gegen die Demonstrierenden „im Keim erstickt“.
 

In der anschließenden Diskussionsrunde ging es vor allem um die möglichen Zukunftsperspektiven des Landes. So bezweifelt Herr Dinkelaker, dass es auf Grund der korrupten Eliten und des schwachen, nicht veränderungswilligen Staates zu einem friedlichen Wandel im Land kommen kann. Eine massive Verschlimmerung der schon jetzt teilweise prekären Lebensumstände könnte aus seiner Sicht das Fass zum Überlaufen bringen und eine gewaltsame Revolution auslösen. Zusammenfassend empfahl unser Referent das Land zu bereisen und selbst eigene Erfahrungen zu sammeln.
 

Die Aufnahme des Online-Seminars ist hier auf Youtube zu finden.
 

Wir bedanken uns herzlich für die rege Beteiligung der Teilnehmenden sowie die ausgeprägte Expertise des Referenten.