Veranstaltungsbericht: Vortrag von James Lee zur Rolle von Rhetorik und Übersetzung in der internationalen Sicherheitspolitik
Am 15. Mai 2025 hielt Dr. James Lee (Academia Sinica, Taiwan) einen Vortrag mit dem Titel „Rhetoric, Translation, and International Security“ im Rahmen einer sicherheitspolitischen Veranstaltungsreihe. Die Präsentation fand unter Mitwirkung des NATO Defense College und der University of California statt. Der Vortrag spiegelte ausschließlich die persönliche Sicht des Autors wider und nicht notwendigerweise die Positionen der kooperierenden Institutionen.
Dr. Lee untersuchte die Auswirkungen sprachlicher Formulierungen und Übersetzungen auf internationale Beziehungen und Sicherheitsfragen. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der rhetorischen Auseinandersetzung um die Bedeutung politischer Begriffe, Verträge und offizieller Erklärungen, sowohl innerhalb einzelner Sprachen als auch bei der Übersetzung zwischen ihnen.
Ein zentrales Beispiel war die sogenannte „Thukydides-Falle“, also die These, dass strukturelle Spannungen zwischen einer aufsteigenden und einer etablierten Macht (z. B. China und die USA) zwangsläufig zum Konflikt führen. Lee argumentierte jedoch, dass Thukydides keine deterministische Theorie strukturellen Machtwandels vertrat, sondern vielmehr die bewusste Expansion Athens in den Vordergrund stellte – ein Hinweis auf politische Handlungsfähigkeit (agency) statt struktureller Zwänge.
Der Taiwan-Konflikt als Fallbeispiel
Ein ausführlicher Teil des Vortrags widmete sich dem Taiwan-Konflikt, der exemplarisch für die sprachlich-politische Ambivalenz in der internationalen Diplomatie steht:
- Die USA vertreten offiziell eine „Ein-China-Politik“, vermeiden jedoch eine eindeutige Aussage zur Souveränität Taiwans.
- Zentrale Begriffe wie „Friedlich“, „Inoffiziell“ und insbesondere der „Status quo“ sind mehrdeutig und umstritten, was die strategische Kommunikation zwischen Washington und Peking erschwert.
- Dokumente wie das Shanghai- und das Normalisierungs-Kommuniqué enthalten Formulierungen mit verschiedenen möglichen Interpretationen, insbesondere durch grammatikalische Mehrdeutigkeit und Übersetzungsprobleme („acknowledge“ vs. „recognize“).
- Auch Positionen anderer Länder wie Großbritannien und Deutschland wurden beleuchtet. Beide Staaten erkennen die Volksrepublik China als einzigen Staat Chinas an, interpretieren jedoch die Zugehörigkeit Taiwans unterschiedlich.
Fazit
Dr. Lees Vortrag zeigte eindrucksvoll, dass internationale Sicherheit nicht nur von militärischen oder wirtschaftlichen Faktoren abhängt, sondern auch maßgeblich von der Interpretation und Übersetzung politischer Begriffe. Die rhetorische Gestaltung von Erklärungen und deren sprachliche Umsetzung können politische Spannungen entweder dämpfen oder verschärfen.
Die anschließende Diskussion mit dem Publikum zeigte reges Interesse, insbesondere an den Auswirkungen der Begriffsklärung für praktische Diplomatie und strategische Kommunikation. Wir danken Dr. Lee sehr für seine Zeit und sein Engagement und wünschen ihm alles Gute für die Zukunft!