An diesem Donnerstag, den 30. Januar 2025 läuft alles etwas anders in der BSH Tübingen. Wir haben Sarah Bassisseh zu Gast. Sie ist Doktorandin am Institut für Politikwissenschaft in Tübingen. Sarah Bassisseh beschäftigt sich in ihrer Forschung in Comparative Politics mit dem Mittleren Osten und kommt selbst aus Syrien. Damit ist sie die perfekte Gesprächspartnerin für unseren Talk „Beyond Assad“. Statt einem Vortrag starten wir gemeinsam mit ihr direkt in die Diskussionsrunde über die aktuelle Lage in Syrien nach dem Sturz von Assad. Zu dieser Diskussion gehört auch, dass wir sie mit unzähligen Fragen löchern dürfen und sie uns ganz viel über Syrien und ihre Einschätzung der Situation erzählt.
Zunächst geht es in unserem Stuhlgesprächskreis jedoch um den Einfluss von anderen Staaten auf Syrien. Studierende möchten wissen, wie sie den Einfluss von Russland, dem Iran, Saudi-Arabien aber auch von der Türkei einschätzt. Alle verfolgen in Syrien eigene Interessen. Russland unterstützte den gestürzten Machthaber Assad militärisch vor allem mit seiner Luftwaffe. Diese Unterstützung war nach der Einschätzung von Sarah Bassisseh aber nur bedingt erfolgreich. Die Milizen, die Russland mit bekämpft hat, wie zum Beispiel der Islamische Staat versteckte sich nämlich in der Zivilbevölkerung. Dadurch kamen durch die Luftangriffe des russischen Militärs vor allem Zivilist*innen ums Leben aber keine Milizionäre. Damit konnte Russland Syrien nicht bei der Schwächung der Milizen helfen. Durch den Ukrainekrieg wurden dann viele der russischen Soldat:innen abgezogen, wodurch auch die russische Unterstützung für Syrien abnahm.
Der Iran unterstützt in Syrien Milizen. Diese versuchen, die Gesellschaft in Syrien zu destabilisieren. Dabei gibt es Berichte, dass die Milizen mit ihrem eigentlichen Feind, dem Islamischen Staat, zusammenarbeiten. Dieser ist noch immer trotz Bekämpfung in der Vergangenheit im Süden des Landes aktiv. Des Weiteren setzt der Iran Desinformationskampagnen ein, die in der aktuellen Situation versuchen, die Menschen zu verunsichern und gegeneinander aufzuhetzen. Saudi-Arabien hat in der Vergangenheit das System von Assad finanziell unterstützt. Die Türkei ist bestrebt, den neuen temporären Präsidenten Ahmed al-Scharaa und die HTS beim Aufbau eines politischen Systems zu unterstützen.
Neben dem Einfluss ausländischer Mächte steht Syrien auch nach Sarah Bassisseh vor vielen internen Herausforderungen: Kann die HTS für die Sicherheit sorgen? Wie wird die HTS Miliz die Zukunft des Staates gestalten? Was ist mit den Kurden und den SDF (Syrian Democratic Forces)?
Der Anführer der HTS Ahmed al-Scharaa hat den geplanten nationalen Dialog über die Zukunft Syriens abgesagt und sich selbst als temporärer Präsident eingesetzt. Darüber hinaus hat er den ehemaligen Verwaltungsapparat von Assad aufgelöst. Es gibt kein Parlament, keine Verfassung und keine Jurisdiktion. Über die konkrete Gestaltung der Zukunft Syriens schweigt Ahmed al-Scharaa. Daher müsse man nach Sarah Bassisseh seine Herrschaft über die Stadt Idlib betrachten, wenn man Anhaltspunkte für eine Prognose bezüglich der zukünftige Herrschaftsgestaltung in Syrien finden will. Dort kann man nach Bassisseh feststellen, dass Ahmed al-Scharaa keine politische Opposition erlaubt hat. Al-Scharaa sieht sich scheinbar selbst gerne in einer Machtposition, die er nicht mit anderen teilen will. Damit ist nach Bassisseh zu befürchten, dass auch das neue politische System auf eine Person zugeschnitten sein wird, die Person Ahmed al-Scharaa. Er könnte versuchen die Lücke, die der Sturz Assads hinterlassen hat und den er selbst herbeigeführt hat, durch seine eigene Person zu füllen.
Eine wichtige Rolle bei der Zukunft Syriens wird auch der Zusammenhalt zwischen der HTS und den mit ihn verbündeten Milizen spielen. Da ist die Frage, ob es der HTS weiterhin gelingen wird, die anderen Milizen zu dominieren. Eng mit dieser Frage ist auch die Frage verknüpft, ob es der HTS gelingen kann für die Sicherheit von Syrien zu sorgen. Ihr derzeitiges Anliegen ist es die Kämpfer*innen der mit ihnen verbündeten Milizen und ihre eigenen Kämpfer*innen in die syrische Armee einzugliedern. Je nachdem wie gut das gelingen wird, wird es der HTS gelingen, für die Sicherheit zu sorgen.
Darüber hinaus wird auch die Kur:dinnen-Frage eine wichtige Rolle für die Zukunft Syriens spielen. Die Frage, was mit den autonomen kurdischen Gebieten, die militärisch von der SDF gestützt werden, passieren soll, wird in den Augen von Sarah Bassisseh kaum diskutiert. Dabei muss ein geeintes Syrien den Kurd*innen ebenfalls eine Perspektive bieten. Derzeit laufen Verhandlungen zwischen den Kurd*innen und der HTS inwiefern und ob sich die autonomen Gebiete im Norden in den restlichen syrischen Staat einfügen. Der Einschätzung von Bassisseh nach wird es vermutlich aber nicht zu einer diplomatischen Einigung kommen, da die Kurd*innen ihre Autonomie zum Selbstschutz erhalten möchten.
Am Ende dieses spannenden Gesprächkreises konnten die anwesenden Studierenden einiges an neuem Wissen über Syrien mitnehmen, Unklarheiten konnten beseitigt werden und wir konnten ein besseres Verständnis für die aktuelle Situation gewinnen. Wir danken Sarah Bassisseh für den spannenden Austausch und ihre Geduld, unsere vielen Fragen zu beantworten.