--- Triggerwarnung: Im Rahmen des Interviews geht es unter anderem um das Thema der sexuellen und sexualisierten Gewalt sowie um Beispiele zu Diskriminierungsfragen ---
BSH: Frau Gill, mit dem Blick auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine: Was wissen wir momentan über die Situation von Frauen und Mädchen in diesem Konflikt?
Gill: Ich bin als Reporterin nicht vor Ort und würde diese Einschätzung den Reporterinnen und den Reportern vor Ort überlassen. Wir selbst haben in der Vergangenheit Frauen aus der Ukraine über mehrere Wochen virtuell begleitet und wir haben schnell festgestellt, dass die Frauen dort verschiedene Rollen einnehmen. Wenn wir über Frauen in Krisen und Konflikten sprechen ist es häufig so, dass Frauen als Opfer wahrgenommen und dargestellt werden. Und das ist vielleicht eine vereinfachte Darstellung, weil oft sind diese Frauen ja auch diejenigen, die die Gesellschaft eigentlich am Laufen halten. Sie kümmern sich meist um die älteren Menschen in der Familie oder um die Kinder.
Es sind aber auch Frauen die in den ukrainischen Streitkräften kämpfen. Und ich würde dafür plädieren, dass man, wenn man über Frauen in Kriegen und Konflikten spricht, dieses große Bild betrachtet und Frauen nicht nur als Opfer von Konflikten darstellt. Auch wenn das natürlich ein extrem wichtiger Aspekt ist. Für unseren Podcast haben wir mit einer Frau gesprochen, die sich dafür entschieden hat zu kämpfen, wenn es notwendig wird, auch während ihrer Schwangerschaft. Sie hat auch ihren Töchtern beigebracht, wie man kämpft. Und auf der anderen Seite macht sie sich natürlich trotzdem Sorgen. Und ich finde eigentlich, dass sie ein ganz schönes Bild dafür ist, wie viele Facetten eine Frau in so einem Konflikt einnimmt.
BSH: Warum interessieren Sie sich für die Rolle von Frauen und Mädchen in Konflikten oder in den internationalen Beziehungen?
Gill: Ich war während und nach meinem Studium viel in Indien unterwegs, weil mein Großvater auch Inder war und ich da immer noch Familie habe. Ich habe da als Reporterin unter anderem für die ARD und für die Deutsche Welle gearbeitet. Und in Indien fällt sofort auf, wie sehr Frauen durch die patriarchale Gesellschaft unterdrückt werden und hierdurch extrem viel Leid produziert wird. Darüber hinaus wird aber auch deutlich, dass dieses Land dadurch nicht sein komplettes Potential ausschöpfen kann. Wenn man anerkennt, welche Rolle Frauen für die Entwicklung von einem Land spielen können, ist es ganz logisch, warum man auch auf die weibliche Sicht in Kriegen und Konflikten blicken muss. Es ist also wichtig genau da hin zu schauen. Schauen wir mal auf Afghanistan. Hier können wir vor den Augen der Weltöffentlichkeit sehen, wie sich das Leben von Frauen mit der Machtübernahme der Taliban von einem Tag auf den anderen Tag extrem verschlechtert hat. Und wenn Sie dann auf die Verhandlungen in Doha schauen, bei denen Frauenrechte einfach nicht ausreichend Platz gefunden haben, dann wird die Bedeutung dieses Themas noch einmal deutlicher.
BSH: Warum spielt (sexualisierte) Gewalt gegen Frauen und Mädchen in den heutigen Kriegen und Konflikten noch so eine große Rolle?
Gill: Wenn ganze Staaten oder wenn Situationen in Staaten instabiler werden, dann verschärft sich meiner Meinung nach auch die Diskriminierung von Frauen und Mädchen und damit eben auch das Risiko, dass Frauen und Mädchen Gewalt ausgesetzt sind. Häufig vermengt sich das dann mit patriarchalen Strukturen. Also einem System, das maßgeblich von Männern geprägt ist und auch kontrolliert wird. Zusammen mit meiner Kollegin Julia Leeb habe ich für den Podcast zum Konflikt im Jemen recherchiert. Bei den Frauen im Jemen haben wir gesehen, dass die Huthi-Rebellen Frauen dann inhaftieren und misshandeln, wenn sie nicht in ihr islamistisches Weltbild passen. Also laute Frauen, Frauen, die nicht die erwünschte Kleidung tragen, Frauen, die sich trauen, ihre Stimme zu erheben, Frauen, die mit dem traditionellen Rollenbild brechen. Und die sollen dann zum Schweigen gebracht werden. Sie werden dann eingesperrt, gefoltert oder misshandelt.
BSH: Wenn wir unseren Blick auf die Vereinten Nationen werfen, dann kann man feststellen, dass lediglich 8 % des uniformierten Personals von UN-Missionen vor Ort Frauen sind. Was ist aus Ihrer Perspektive die Folge davon?
Gill: Es gibt beispielsweise eine Studie des Council on Foreign Relations, die zeigt, dass Friedensverhandlungen bei denen Frauen eine wichtige Rolle spielen, auch nachhaltiger sind. Bei der Beteiligung von Frauen in UN-Missionen, die Sie erwähnt haben würde ich vermuten, dass ein ähnlich positiver Effekt auch bei solchen Missionen möglich wäre, wenn mehr Frauen beteiligt wären. Mehr Diversität schadet nie. Es schadet in keinem Unternehmen, es schadet nicht bei der Bundeswehr und das schadet sicherlich auch nicht, wenn das UN Personal vor Ort diverser ist.
BSH: Wie blicken Sie auf die Rolle von Deutschland? Wir haben das erste Mal eine deutsche Außenministerin. Feministische Außenpolitik soll zu einer Säule deutscher Außen- und Sicherheitspolitik werden. Welche internationalen Auswirkungen kann eine solche Veränderungen in einem einzelnen Land eigentlich haben?
Gill: Ich glaube, das ist grundsätzlich eine Frage, die man in der Rückschau besser beantworten kann. Aber vielleicht so viel: Ich habe in diesem Jahr vom Petersberger Dialog in Berlin berichtet. Und da ist mir aufgefallen, dass Frau Baerbock ihre Rede angefangen hat mit dem Beispiel von einem Fischer, der in ungefähr zehn Jahren keine Heimat mehr haben wird. Und dieses ganz konkrete Beispiel und diese sehr persönliche Gesprächsebene mit Menschen und die stärkere Wahrnehmung der Zivilgesellschaft vor Ort bewirkt, glaube ich, dass man Konflikte und Krisen persönlicher wahrnimmt. Ich glaube auch, dass sich der Blick von Außen- und Sicherheitspolitik dadurch langfristig weitet. Und wenn wir künftig über Sicherheit sprechen wird es neben den Diskussionen über die nukleare Abschreckung hoffentlich auch um feministische Themen oder um Themen rund um die Human Security gehen. Das ist einfach ein Gewinn einer neuen Perspektive.
BSH: Wie blicken Sie ganz grundsätzlich auf die Ampel Koalition - haben Sie Hoffnung, dass dem Thema künftig nachhaltig und wirksam Raum gegeben werden wird?
Gill: Es ist sicherlich ein Thema, was gerade „en vogue“ ist. Inwiefern das nachhaltig auch umgesetzt wird, muss man mal abwarten. Aber ich glaube schon, dass es da kein "Zurück" gibt und so langsam die Erkenntnis einsetzt, dass das ein wirklich wichtiges Thema ist. Das ist sicher kein "Gedöns" - das ist die Zukunft!
BSH: Die bestialische Massenvergewaltigung einer 23-jährigen Frau in Delhi liegt fast genau 10 Jahre zurück. Wie hat dieser Fall die Situation von Frauen in Indien verändert und wie ist sie heute, zehn Jahre später?
Gill: Bis heute finden Sie Aussagen von Lokalpolitikern, die Frauen in solchen Fällen vorwerfen einfach nur was falsches angezogen zu haben. Erst vor wenigen Tagen hat ein großes indisches Unternehmen eine Werbekampagne veröffentlicht, in der mit einer Massenvergewaltigung kokettiert wurde. Das zeigt ganz eindrücklich, wie viel in dieser Gesellschaft noch passieren muss. Aber es hat sich auch etwas verändert: Zehn Jahre nach der Vergewaltigung sind Gerichtsprozesse schneller geworden. Es gibt mehr und mehr Frauen die laut sind und den Wandel öffentlich einfordern. Aber das Problem ist sehr tiefgreifend. Diese patriarchalen Strukturen und dieses Gefühl, dass Männer sich nehmen können, was sie wollen, bestehen schon seit sehr langer Zeit. Auch das eigentlich ja schon seit Jahrzehnten verbotene Kastenwesen in Indien spielt hierbei in den Köpfen der Menschen noch eine wirklich große Rolle. Es gibt durchaus gesellschaftliche, politische und kulturelle Bewegung aber es ist noch wahnsinnig viel Luft nach oben. Indien ist für mich ein Beispiel, bei dem wahnsinnig klar wird, dass der Schutz und die Förderung von Frauen und Mädchen dem ganzen Land gut tun würde. Es wäre so unglaublich gewinnbringend Frauen und Mädchen flächendeckend beizubringen, welche Rechte sie haben und wie sie sich auch wirtschaftlich unabhängiger machen könnten.
BSH: Sehen Sie gesellschaftliche Strömungen, Parteien, Verbände, die Ihnen Hoffnung geben, dass sich die Situation von Frauen und Mädchen in Indien ändern wird?
Gill: Schon 2012 sind wahnsinnig viele Frauen auf die Straße gegangen. Auch in dem gerade geschilderten Fall der Werbekampagne gab es deutlichen Widerspruch beispielsweise von einer sehr bekannten Schauspielerin und mittlerweile gibt es auch eine Entschuldigung von dem Unternehmen. Es ist also nicht so, dass die Frauen schweigen würden, da ist schon einiges in Bewegung geraten.
BSH: Sie erzählen in Ihrem Podcast die Geschichte von Sunita, die in einem kleinen Dorf im Bundesstaat Jharkhand lebt und der irgendwann der Vorwurf gemacht wird, eine Hexe zu sein. Wollen Sie uns ihre Geschichte erzählen?
Gill: Sunita ist eine Frau, die sich traut zu sprechen. Sie hat uns ein Interview gegeben, sie hat sich Hilfe bei einer Hilfsorganisation gesucht, sie ist laut und unbequem für Diejenigen, die sie unterdrücken wollten. Ihre Geschichte begann mit Landstreitigkeiten. In dieser Region ist es oft so, dass Frauen, die Land erben, vertrieben oder umgebracht werden. Diesen Frauen wird dann vorgeworfen, eine Hexe zu sein, damit das Land bloß nicht an sie oder ihre Familie geht. Oftmals sind es dann Nachbarn oder sogar Verwandte, die die Vorwürfe erheben. Das zeigt natürlich, dass es dort bis heute gesellschaftliche nicht akzeptiert ist, dass Frauen beispielsweise beim Erbrecht gleichberechtigt sind. Wir haben aber auch Fälle gesehen, bei denen Frauen der Hexerei bezichtigt werden, weil Menschen in dem Dorf plötzlich krank werden. Auch Neid spielt häufig eine große Rolle. Wir haben von einer Frau erfahren, die als Hexe diffamiert wurde nachdem ihre Kinder in der Schule erfolgreicher waren als andere Kinder. Nicht selten endet ein solcher Vorwurf gegen Frauen dann tödlich. Vor einigen Jahren saß ich in einem Haus auf dem Land. Der Sohn erzählte mir dann, dass seine Mutter geköpft wurde weil man ihr vorwarf eine Hexe zu sein. Er war als Wanderarbeiter unterwegs, hat erst nach seiner Rückkehr davon erfahren und musste dann die Blutspuren aufwischen. Unter dem Deckmantel des Aberglaubens werden dort also wahnsinnig schlimme Verbrechen begangen. Es ist ein schwer zu begreifendes Phänomen aber im Kern ist es eine Mischung aus tatsächlichem Aberglaube und einem wirkungsvollen Instrument der Unterdrückung.
BSH: Wie häufig kommen solche Fälle vor?
Gill: Das ist schwer zu beantworten, weil die Dunkelziffer hoch ist. Mann kann hier durchaus hunderten Fällen ausgehen. Aber selbst Hilfsorganisationen vor Ort können das schwer beziffern, da diese Dinge auch oft unter dem Radar von solchen Organisationen passieren.
BSH: Das oberste Ziel des BSH ist die sicherheitspolitische Bildungsarbeit innerhalb der deutschen Hochschullandschaft und bisher haben wir feministischen Themen innerhalb der Sicherheitspolitik vergleichsweise wenig Beachtung geschenkt, wir sind ein Teil der “Sicherheitspolitischen Blase” in Deutschland - sind wir die einzigen die hier was verpennt haben oder erkennen Sie da grundsätzlichen Nachholbedarf?
Gill: Ich glaube, dass gerade ein Wandel stattfindet. Wenn Sie den Fernseher einschalten oder eine Tageszeitung lesen, dann werden Sie heute viel mehr weibliche Stimmen hören und sehen als noch vor einigen Jahren, gerade wenn es um Sicherheitspolitik geht. Der Wandel beginnt gerade und man sollte ihn jetzt nicht verpennen! Wir befinden uns im Jahr 2022 und wir reden darüber, dass ungefähr die Hälfte der Weltbevölkerung bei Außen- und Sicherheitspolitik jetzt auch mal gerne mitreden würde - das ist irgendwie nicht zu viel verlangt. Und es ist sicher spannend den Sicherheitsbegriff zu weiten und auch menschliche Sicherheit vermehrt auf den Lehrplan zu nehmen und nicht ausschließlich über militärische Sicherheit zu sprechen.
BSH: Eine Frage, die man eigentlich so hoffentlich in zehn Jahren nicht mehr stellen muss: welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht, als Frau über sicherheitspolitische Themen zu berichten?
Gill: Ich war neulich zu einem Panel in Berlin eingeladen und da saßen mit mir drei Frauen und ein Mann auf dem Podium - das fand ich richtig cool! Ich habe eigentlich immer viel Offenheit und Unterstützung von allen Seiten erfahren. Aber natürlich sehe ich, dass drei Frauen auf einem Podium noch lange keine Normalität in der sicherheitspolitischen Gemeinschaft in Deutschland sind. Ich glaube, dass die Türen heute sehr viel weiter offen sind für uns, weil sie Generationen vor uns aufgestoßen haben. Es gibt aber auch Momente, in denen ich mich frage, ob die Türen wirklich so weit offen stehen oder ob ich einfach nur Glück hatte.
BSH: Frau Gill, vielen Dank für das Interview!