Die Arktis und die Krisen des Multilateralismus
Die Arktis – die geografische Region jenseits 66° nördlicher Breite – erhält heute verstärkte mediale Aufmerksamkeit. Bedingt ist dies unter anderem durch den Klimawandel, der in der Arktis wesentlich schneller voranschreitet als in anderen Regionen der Welt. Doch nicht nur aufgrund der Herausforderungen, sondern auch aufgrund der neuen Möglichkeiten, die der Klimawandel mit sich bringt, steht die Arktis im Interesse von immer mehr Staaten. Der markante Rückgang der arktischen Meereisausdehnung macht die Erschließung bisher unerreichbarer natürlicher Ressourcen möglich. Bedeutung hat dies, da in der Arktis circa 13 Prozent des noch unentdeckten Erdöl- und 30 Prozent des Erdgasvorkommens der Erde vermutet werden. Zudem macht die Eisschmelze immer größere Teile des Arktischen Ozeans für länger werdende Zeitperioden im Jahr für Schiffe befahrbar, wodurch sich attraktive, zeitsparende neue Routen für die Schifffahrt bilden.
Diese Veränderungen in der Arktis und die wachsende internationale Beachtung der Region nahm sich die Münchner Hochschulgruppe des Bundesverbands Sicherheitspolitik an Hochschulen zum Anlass, um einen genaueren Blick auf die regionale Ordnung, mögliche Krisen und die sicherheitspolitische Bedeutung der Region zu werfen. Dazu lud die Hochschulgruppe Dr. Sebastian Knecht, Experte für internationale Kooperation in der Arktis, als Referenten nach München ein. Knecht ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Internationale Beziehungen an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Er promovierte an der Berlin Graduate School for Transnational Studies der FU Berlin.
In seinem Vortrag erläuterte Knecht, dass bezüglich der Arktis primär zwei konträre Narrative bestehen und diskutiert werden. Erstens wird die Arktis, unter anderem in der medialen Berichterstattung, oftmals als Region des Konflikts verstanden. Dieses Narrativ knüpft an die Bedeutung der Arktis während des Kalten Krieges als Schlüsselregion der gegenseitigen Abschreckung der UdSSR und der NATO an. Einige Stimmen erwarten aufbauend auf einem Überwiegen der nationalen Interessen der arktischen Staaten einen Wettlauf um Ressourcen und einen „neuen Kalten Krieg“. Im Kontrast dazu deutet ein zweites Narrativ die Arktis als Region des Friedens und der Kooperation, in der der Dialog zwischen den acht arktischen Staaten oder sogenannten A8 – den USA, Kanada, Russland, Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland und Island – trotz internationaler Konflikte niemals abgebrochen ist.
Dr. Knecht zog letzteres Narrativ vor. Er gab einen Überblick über den Arktischen Rat als das zentrale politische Gremium in der Arktis. Dem Rat gehören alle acht arktischen Staaten als Vollmitglieder sowie Vertreter indigener Bevölkerungsgruppen an. Er wurde 1996 mit dem Ziel gegründet, die Zusammenarbeit der arktischen Staaten zu stärken. Im Fokus stehen dabei die Themenbereiche Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung. Fragen militärischer Sicherheit klammert der Rat aus. Die Außenminister der arktischen Staaten kommen zu regelmäßigen Treffen zusammen. Zudem erstellt der Rat in seinen sechs Arbeitsgruppen wissenschaftliche Analysen über die Veränderungen der arktischen Umwelt und spricht Handlungsempfehlungen für die arktische Governance aus.
Knecht warf die Frage auf, ob diese multilaterale arktische Ordnung heute in eine Krise geraten sei. Er zeigte Faktoren auf, die für eine solche Krise sprechen könnten: Erstens könnte der Multilateralismus in der Arktis selbst ein Problem sein. Auch wenn die Arktis geographisch ein klar definiertes, abgegrenztes Gebiet darstellt, ist sie Knecht zufolge keine periphere, sondern eine „globale Region“, in der lokale, regionale und internationale Interessen überlappen und verhandelt werden. Mittlerweile besitzen 13 nicht-arktische Staaten – darunter seit 2013 auch China – permanenten Beobachterstatus im Rat. Mit dem Interesse und der Beteiligung immer weiterer Akteure an dem eigentlich eng begrenzten, exklusiven Regime könnten die A8 an Bedeutung und Legitimation als ausschließliche Akteure arktischer Governance verlieren, so Knecht. Zweitens erklärte Knecht, dass die multilaterale arktische Ordnung sowohl von innen als auch von außen mit Herausforderungen konfrontiert sei. Intern stellen unilaterale Maßnahmen, wie etwa Trumps aufgeworfener Grönland-Deal oder Russlands Orientierung in Richtung China die multilaterale Kooperation unter den A8 als zentrale Handlungslogik arktischer Governance infrage. Von außen wird der Arktische Rat als Organisationsprinzip arktischer Governance angezweifelt durch Kritik an mangelnder politischer Autorität des Gremiums, insbesondere im sicherheitspolitischen Bereich, Forderungen nach mehr Mitspracherechten nicht-arktischer Akteure sowie Rufe nach einem globalen Regime für die Arktis ähnlich des Antarktisvertrags.
Trotz dieser Faktoren sieht Knecht den arktischen Multilateralismus nicht in einer Krise. Stattdessen erweise sich dieser als robust, anpassungsfähig und effektiv. Knecht betonte, dass der Arktische Rat als effektives multilaterales Forum funktioniere. Die Kooperation der A8 im Rat verlaufe kontinuierlich und produktiv. Ihre Erfolge zeigen sich in der Verhandlung rechtlich verbindlicher Abkommen etwa im Bereich von Such- und Rettungsoperationen sowie der wissenschaftlichen Zusammenarbeit. Insgesamt sei der arktische Multilateralismus nicht in einer Krise, sondern sei die Lösung, um Krisen in der Region zu verhindern.
In seiner Darstellung der Arktis als Raum der Kooperation und des funktionierenden Multilateralismus entkräftete Knecht das Narrativ des regionalen Konflikts. Die Erwartung eines Wettlaufs um Ressourcen wies er dadurch zurück, dass das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen den Anspruch an Rohstoffen regele. Das erwartete Öl- und Gasvorkommen liege größtenteils innerhalb der Ausschließlichen Wirtschaftszonen der arktischen Küstenstaaten, in denen diese gemäß dem Übereinkommen das Recht zur Ausbeutung der natürlichen Ressourcen besitzen. Zudem betonte der Referent, dass in der Region aus sicherheitspolitischer Sicht kein Konflikt oder die Gefahr einer militärischen Eskalation bestehen. An solchen hätten die arktischen Staaten schlicht kein Interesse. Es sei richtig, dass etwa Russland in den letzten Jahren seine militärischen Kapazitäten in der Arktis ausgebaut habe. Die Militarisierung und das Konfliktpotenzial in der Region werden jedoch in verschiedenen Medien teils unzutreffend oder irreführend dargestellt und hochgespielt. Knecht zeigte Beispiele, wie selbst auf den Titelseiten von Publikationen über die Arktis Forschungsschiffe als Kriegsschiffe präsentiert werden, um damit die Annahme eines potenziellen Konflikts zu bekräftigen.
Insgesamt machte Knecht in seinem Vortrag sowie in der anschließenden Diskussion mit dem Publikum deutlich, dass der Nordpol keinen Konfliktpol darstellt. Eine militärische Konfrontation sei in der Arktis in naher Zukunft nicht zu erwarten. Stattdessen zeichne sich die Region durch eine stabile, multilaterale Ordnung und Kooperation aus. Mit dem wachsenden internationalen Interesse an der Arktis treten neue Akteure in die Region ein, ohne aber dabei eine Krise der etablierten Strukturen auszulösen.
Bericht von Judith Heckenthaler