Veranstaltungsbericht: „Kneipengespräch: Schicksalswahl in der Türkei?

I. Thema der Veranstaltung: 

Gemeinsam mit der Polis180 Regiogruppe Rheinland hat die BHAS ein Kneipengespräch zu den Wahlen in der Türkei organisiert. Über die aktuellen Entwicklungen diskutierten die gut 20 Teilnehmenden mit den beiden ausgewiesenen Türkei-ExpertInnen Dr. Shushanik Minasyan vom Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn und Dr. Mahir Tokatlı vom Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen.

 

II. Ausgangslage

Die Türkei ist angesichts ihrer geopolitischen und geostrategischen Schlüsselrolle zuletzt vermehrt in den Fokus der Weltöffentlichkeit gerückt. Als Vermittlerin im Ukraine-Krieg, etwa bezüglich des Getreideabkommens konnte sie an soft power gewinnen. Sie nutzt ihre geostrategische Lage sehr geschickt zu ihrem eigenen Vorteil; sei es als Hüterin der Tore zum kriegserschütterten Syrien oder als strategisches Energie-Drehkreuz. Als Mitglied der NATO behindert die Türkei weiterhin die Erweiterung des transatlantischen Bündnisses.

In Anbetracht dessen blickte die Welt am 14. Mai mit (An-)Spannung auf die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei. Obwohl Recep Tayyip Erdoğan nicht auf Anhieb eine Mehrheit gewinnen konnte, geht er als Favorit in die Stichwahl am 28. Mai. Allerdings zeigte das Ergebnis, dass seine AKP so angeschlagen ist, wie noch nie: Angesichts einer seit Jahren anhaltenden Wirtschaftskrise des unzureichenden Katastrophenmanagements im Nachgang der jüngsten Erdbebens im Osten des Landes, musste die Partei erstmals seit 20 Jahren um den Wahlsieg bangen.

Welche Konsequenzen hätte ein erneuter Sieg Erdogans für den voranschreitenden, autokratischen Umbau des türkischen Staatsapparates? Zeichnet sich ein Umdenken in der türkischen Gesellschaft ab? Und wie finden Deutschland, die EU und die NATO zukünftig den richtigen Umgang mit dem schwierigen Partner am Bosporus?

 

III. Inhaltliche Take-aways

 

Dr. Mahir Tokatlı:

 

Im Vorfeld der Wahlen:

 

  • Die Kandidatur Erdogans war verfassungswidrig.
  • Im Vorfeld der Wahlen wurde ein vielversprechender Kandidat, der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu (CHP), mittels politisch motivierter strafrechtlicher Verfolgung ausgeschaltet.
  • Die Medien sind zu großen Teilen staatlich kontrolliert.

 

Auch eine mögliche Präsidentschaft Kilicdaroglus hätte aufgrund der teilweise ultranationalistischen Koalitionspartner nicht zu Redemokratisierung der Türkei führen können. Allenfalls wären Liberalisierungsschritte denkbar gewesen.  

Eine Rückkehr ins parlamentarische System wäre unrealistisch gewesen, da Verfassungsänderungen eine 3/5-Mehrheit erfordern.

Der erwartbare Sieg Erdogans trotz der gravierenden Wirtschaftskrise ist u.a. mit seiner erfolgreichen Klientelpolitik zu erklären. Dies zeigen schon die Mitgliederzahlen: Die AKP verfügt über etwa 11 Millionen Mitglieder; Kilicdaroglus CHP verfügt im Vergleich lediglich über knapp 1,4 Millionen Mitglieder.

EU-Beitritt der Türkei? Insbesondere hat die Türkei ein Interesse daran, dass weiter Gelder im Rahmen des Beitrittsprozesses fließen. Die Diskussion um den Beitritt ist aber spätestens seitdem Beitritts Nordzyperns in die EU obsolet geworden.

 

 

Dr. Shushanik Minasyan:

 

Überblick:

 

Die türkische Außenpolitik hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr gewandelt. Nachdem die Türkei außenpolitisch eher zurückhaltend agiert hat, hat sie sich seit 1994 zu einem Transitkorridor für Energie nach Europa entwickelt. Mit dem seit 2007 rhetorisch schärferen Auftreten Putins haben sich für die Türkei neue Aktionsfelder eröffnet, die von ihr geschickt bespielt wurden. So wurden u.a.: Westliche Partner bewusst aus energiepolitischen Deals rausgehalten;

  • Verfolgung des außenpolitischen Konzepts der „strategischen Tiefe“ (Ahmet Davutoglu) = Betonung von nationalistischen, islamischen und pan-türkischen Elementen, ohne dabei explizit die traditionelle Westbindung der türkischen Außenpolitik aufzugeben;
  • Eine „Null-Probleme“-Strategie mit den Nachbarländern angestrebt, die allerdings in der Realität nicht umgesetzt wurde;
  • Massiver Ausbau der militärischen Autarkie;
  • Aggressive hegemoniale Rhetorik gepflegt, insbesondere in Bezug auf  Schwarzmeer-Raum.

 

Was bedeutet die Wahl? Was kommt nach der Wahl? Ein Regierungswechsel hätte kaum Einfluss auf das außenpolitische Handeln der Türkei gehabt; allenfalls wäre dem Westen gegenüber eine mildere Rhetorik gewählt worden

Wie entwickelt sich die Außenpolitik bei einem Sieg Erdogans? Die türkische Außenpolitik wird noch aggressiver werden. Es ist mit einer Akzeptanz Russlands der türkischen Interessen zu rechnen, was mit einer Aufteilung der Interessenssphären zwischen Russland und der Türkei im Balkan und im Südkaukasus einhergehen könnte.